10.04.2025

Andreas K. Vetter (Hg.) – raumtexte – Eine Anthologie zur literarischen Innenarchitektur

Theorie

„raumtexte – Eine Anthologie zur literarischen Innenarchitektur“ von Andreas K. Vetter ist 2011 beim Aisthesis Verlag in Bielefeld erschienen. Wie der Untertitel verrät, handelt es sich um einen atmosphärischen Streifzug durch die Literaturgeschichte. Abgeschlossen wird der Band durch ein Nachwort des Herausgebers. Der Band bietet neben reichhaltigen Beschreibungen räumlicher Situationen einen sehr kurzweiligen Streifzug durch die europäische Literatur.

Literarische Texte nutzen die mal mehr, mal weniger ausführliche Beschreibung von Innenräumen zur Erzeugung von Stimmungen beim Leser. Die Handlung wird in eine bestimmte Atmosphäre eingebunden. Sie geschieht vor einem in gewisser Weise „getönten“ Hintergrund, in einer auf bestimmte Weise gestimmten Szenerie. Dabei wird die Stimmung auf verschiedene Arten und Weisen beschrieben und erzeugt. Das geschieht auf unterschiedlichen Ebenen der sinnlichen Wahrnehmung. Nicht nur unser optischer Sehsinn wird durch Licht und Farbe angesprochen, sondern auch unser akustischer Sinn über die Beschreibung diverser räumlicher Klänge, unser Tastsinn spielt eine Rolle, unser Gespür für warm und kalt und nicht zuletzt unser Geruchssinn ist spätestens seit Prousts schon sprichwörtlichem „Duft der Madeleines“ Teil des literarischen Repertoires zur Erzeugung von Raumstimmungen. Auffällig ist dabei die Verschränkung unterschiedlicher sinnlicher Wahrnehmungen bei der Beschreibung räumlicher Atmosphären. Selten verlassen sich die Schriftsteller auf einen Sinnesbereich, um eine bestimmte Raumstimmung in ihren Werken zu erzeugen.

Ein wichtiges Moment der Atmosphäre von Räumen – das in der Architekturtheorie nur sehr selten Beachtung findet – ist in der Literatur der räumliche Klang. Dazu eine Stelle des Romantikers Clemens Brentano: „»Die Töne sind ein wunderbarer lebender Atem der Dunkelheit«, sagte ich; »wie alles rauscht und lebt und spricht in dem heimlichen Saale, den die Töne wie glühende Pulsschläge durchzucken.«“ (Seite 26) Sofort ist man emotional in einen gestimmten Raum versetzt. Oft ist es auch die Art und Weise, wie Geräusche die Grenze von Innen und Außen akzentuieren, die mit jedem Gebäude und jedem Raum darin gegeben ist – das Geräusch der Welt da draußen. So etwa in Virginia Woolfs Roman Jakobs Zimmer: 

Das Haus schien erfüllt von Gurgeln und Rauschen, die Zisterne floß über, Wasser gluckste und quiekste und strudelte durch die Rohre und strömte die Fenster hinunter. […]

Draußen rauschte der Wind, aber die kleine Flamme der Spirituslampe brannte ruhig, durch ein aufgestelltes Buch von der Wiege abgeschirmt.

[…] Denn der Wind brauste über die Küste, warf sich an die Hügel und schwang sich in jähen Böen auf seinen eigenen Rücken. Wie er die kleine Stadt in der Mulde überzog! Wie die Lichter in seinem Zorn zu blinzeln und zu flattern schienen, Lichter im Hafen, Lichter in Schlafzimmerfenstern hoch droben! Und dunkle Wellen vor sich herrollend, raste er über den Atlantik und riß die Sterne über den Schiffen hierhin und dorthin“ (Seite 159f)

Sofort entsteht ein Kontrast zwischen dem stürmischen Wetter draußen, vor dem Fenster und dem als behaglich charakterisierten Innenraum. Damit wird ein urtümliches Spannungsverhältnis evoziert, das tief in unserem emotionalen Bewusstsein verankert ist – der Gegensatz vom ungeschützten Draußen-Sein zum geborgenen Innen-sein. Ein Gegensatz, den jede gebaute Architektur auf die eine oder andere Art manifestiert.

Das aus der Dunkelheit heraus raumerzeugende Licht – die „Lichtinsel“ in einem Meer der Dunkelheit, die aus dem Massiv der Dunkelheit herausgeschnittene Lichthöhle – ist ein vielfach verwendetes schriftstellerisches Motiv. Wie von selbst assoziieren wir Licht mit der Offenheit, in die es hineinscheint, beziehungsweise, die es selbst erzeugt, indem es im „Massiv“ der Dunkelheit aufscheint. Das Dunkel dagegen hat oft fast stoffliche Qualität. In diesem Sinne schreibt Goethe: „Wir waren schon einigemale bis ans Ende gelangt, in das kleine Kabinett, das nur von einer trüben Lampe erhellt ist. War sie schön, wenn sie sich unter den Kronleuchtern her bewegte, so war sie es noch unendlich mehr, beleuchtet von dem sanften Schein der Lampe.“ (Seite 27) Deutlicher noch findet sich dieses Motiv bei Eugène Sue:

„Und Cecily trat an den Kamin, löschte die Lampe […] und schürte das Feuer an, dessen flackernder Schein das große Zimmer erhellte. […] Die Flammen im Kamin warfen ihren rötlichen Widerschein auf die Creolin, welche auf diese Weise, mitten in dem Dunkel im Zimmer, hell beleuchtet erschien.

In Vervollständigung dieses Bildes erinnere sich der Leser des geheimnisvollen, fast phantastischen Aussehens eines Zimmers, in welchem die Flamme des Kamins gegen den starken Schatten kämpft, der an der Decke und an den Wänden zittert.“ (Seite 53)

Dem durch das Licht erzeugten Innenraum wird gleichzeitig klanglich das Draußen gegenübergestellt: „Der Sturm tobte heftiger; man hörte es draußen brüllen“ (Seite 53) mit Wenigen Worten ist über die Beschreibung der Lichtverhältnisse und den klanglichen Gegensatz von Innen und Außen eine suggestive Stimmung erzeugt, die jeder Leser sofort emotional nachempfinden kann. Man ist emotional in die atmosphärische Situation eingebunden. Ein weiteres Beispiel dafür finden wir im Sammelband in einer Stelle aus Robert Louis Stevensons Der seltsame Falls des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, wo die behagliche Lichtstimmung eines Raumes mit der düsteren Handlung des Romans in einen spannungsvollen Kontrast gesetzt wird. 

„Da lag der Raum vor ihren Augen ruhig im Lampenlicht. Im Kamin glühte und prasselte ein gutes Feuer, darüber sang der Kessel seine leise Melodie, ein paar Schubladen standen offen, und beim Feuer lag alles für den Tee bereit. Der friedlichste Raum, würde man gesagt haben, und abgesehen von den verglasten Schränken voller chemischer Materialien an diesem Abend der gemütlichste Ort in ganz London.“ (Seite 107)

Eine weitere sehr schön gezeichnete Stelle finden wir in einem Ausschnitt aus Herbert George Wells‘ Kurzgeschichte The Red Room:

„Und wenn man sich umsah in diesem riesigen düsteren Raum mit seinen schwarzen Fensterbuchten, seinen Rücksprüngen und Nischen, seinen verstaubten braunroten Wandbehängen und dunklen gigantischen Möbeln, dann waren diese Legenden, die aus seinen schwarzen Ecken und der schwülen Finsternis sprossen, gut nachvollziehbar. Meine Kerze zitterte wie eine kleine Zunge aus Licht in der Weite des Zimmers, ihre Strahlen gelangten nicht bis an seine Begrenzungen und hinterließen um ihre kleine Insel des Leuchtens einen Ozean dumpfer rötlicher Geheimnisse und Andeutungen, wacher Schatten und einer beobachtenden Dunkelheit. Dazu hing über allem eine erdrückend trostlose Stille.“ (Seite 117)

Auch hier wieder verbindet sich die Lichtstimmung mit einer bestimmten akustischen Situation. Der Kampf des flackernden Lichts wird durch die Stille überlagert, die sich mit dem Stoff der Dunkelheit verbindet. Auch bei Joseph Conrad findet sich das bedrohliche Motiv der kaum erhellten Dunkelheit, so etwa in seinem Roman Der Verdammte der Insel (vergleiche Seite 122). 

Neben dem grundsätzlichen Gegensatz von Licht und Dunkel spielen die Schriftsteller – wie man an dem vorangegangenen Beispiel sehr schön sehen kann – mit vielfältigen farblichen Motiven.  Bei Herbert George Wells ist es die schwarz-rot-braune Dunkelheit des Zimmers, die sich als düstere Stimmung auf den Nachtwache haltenden Protagonisten der Geschichte überträgt. Im Gegensatz dazu beschreibt Émile Zola in Die Beute eine völlig in Rosa, das zwischen Grau und Weißtönen changiert, gestaltete Wohnung, mit der am Ende der Passage deren Bewohnerin quasi farblich zu verschmelzen scheint (Seite 85ff).

Licht- und Farbstimmungen verbinden sich dabei zu einer Grundstimmung, die mit den verschiedenen Jahreszeiten einhergehen können. Thomas Mann skizziert in seinen Buddenbrooks verschiedene solcher Stimmungen: 

„[…] Ein Jahr und zwei Monate später, an einem schneedunstigen Januarmorgen des Jahre 1850 […] Die Scheiben der beiden Fenster waren vor Nebel beinahe undurchsichtig; verschwommen gewahrte man nackte Bäume und Sträucher dahinter. In dem grünglasierten Ofen, der in einem Winkel stand – neben der offenen Tür, die ins >Pensee-Zimmer< führte, woselbst man Blattgewächse erblickte – knisterte die rote Glut und erfüllte den Raum mit einer sanften, ein wenig riechenden Wärme.

[…] Die grünen Stores in Frau Grünlichs Schlafzimmer im zweiten Stockwerk wurden sacht von dem lauen Atem einer klaren Juninachtbewegt, denn beide Fenster Standen offen.“ (Seite 133ff)

Mit wenigen Strichen zeichnet Mann das Bild verschiedener jahreszeitliche Stimmungen – die „behagliche Winterruhe“ oder die „laue Sommernacht“. Sofort sind wir mit ähnlichen Grundstimmungen in unserem eigenen Leben verbunden.

Neben Klang Licht und Farben spielt die Raumtemperatur eine entscheidende Rolle für die Atmosphäre. Nicht zuletzt sprechen wir von einem warmen oder kalten Licht, warmen oder kalten Farben und übertragen diese Eigenschaften am Ende sogar auf den Klang von Tönen. So etwa bei Zola in Ein feines Haus: „Was Octave jedoch am meisten beeindruckte, als er eintrat, war die gewächshausartige Temperatur, ein warmer Lufthauch, der einem wie aus fremdem Mund in das Gesicht strömte.“ (Seite 97) Mit unserem grundlegenden Bedürfnis nach Wärme sind sofort vielfältige synästhetische Empfindungen verknüpft. Darüber hinaus verbinden wir Wärme mit Leben und Kälte mit dem Tod. Fontane greift das Motiv in Effie Briest auf: 

„[…] und schon an der Flurwand hin, der große schwarze Kachelofen aufragte, der noch (soviel hatte sie schon am Abend vorher bemerkt) nach alter Sitte von außen her geheizt wurde. Sie fühlte jetzt, wie seine Wärme herüberströmte. Wie schön es doch war, im eigenen Hause zu sein, so viel Behagen hatte sie während der ganzen Reise nicht empfunden, nicht einmal in Sorrent.“ (Seite 121)

Wärme erzeugt in uns ein Gefühl der Behaglichkeit, ein Zu-Hause-Sein und Geborgenheit.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Atmosphäre gebauter Räume, der in der im Architekturdiskurs so gut wie keine Rolle spielt, ist die Sphäre des Geruchs. Wenn wir Räume betreten, tauchen wir nicht selten in eine einzigartige olfaktische Blase ein, die diese Räume erfüllt. Hier beispielhaft Oskar Loerkes Roman Der Turmbau: „Sie wagte die dicke Luft nicht recht zu atmen. Sie kam sich in das zinnschwere spinngraue alter hineingesperrt vor und fürchtete es.“ (Seite 144) Oder bei Hermann Hesse, der in seiner Erzählung Kinderseele Geruch und Klang dichterisch verbindet: 

„Diese kleine Treppe mit ihrem Tapetengeruch und dem trockenen Klang der hohlen, leichten Holzstufen war noch unendlich viel mehr als der Hausflur ein bedeutsamer Weg und ein Schicksalstor; […] Der väterliche Studierzimmergeruch floß mir wohlbekannt entgegen: Bücher- und Tintenduft, verdünnt durch blaue Luft aus halboffnen Fenstern, reine Vorhänge, ein verlorener Faden Köllnisch-Wasser-Duft und auf dem Schreibtisch ein Apfel.“ (Seite 149)

Ein weiterer, ganz wesentlicher Aspekt der Raumstimmung betrifft das Räumliche des Raumes selbst, das Spannungsverhältnis von Enge und Weite, also die eigentliche Raumproportion. Das klingt in Tucholskys Schrift Die leere Zelle an: „Alles steht still im Raum – Fenster und Tür sind offen, aber es wird nicht besser, zäh klebt es an den Wänden, geronnen steht die Luft. Es wird einem so eng, wenn man hier drinnen ist.“ (Seite 180) Bei Stefan Zweig, eingeschlossen in ein Hotelzimmer-Gefängnis, steigert sich die Enge und Leere des Raums zum Nichts:

„Man tat uns nichts – man stellte uns nur in das vollkommene Nichts, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts. […] rings um mein Ich und selbst an meinem eigenen Körper war das vollkommene Nichts konstituiert. […] man lebte wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean dieses Schweigens und wie ein Taucher sogar, der schon ahnt, daß das Seil nach der Außenwelt abgerissen ist und er nie zurückgeholt werden wird aus der lautlosen Tiefe. Es gab nichts zu tun, nichts zu hören, nichts zu sehen, überall ununterbrochen war um einen das Nichts, die völlig raumlose und zeitlose Leere.“ (Seite 199f)

Die räumliche Situation und psychische Verfassung des Ich-Erzählers verschwimmen hier ineinander. Der Gefangene befindet sich in einer Situation, in der seine Sinne durch nichts im Raum angesprochen werden. Die räumliche Situation weist keinerlei Veränderungen auf. Nichts spricht den Insassen an. Weder das Licht noch die Farben, keine Klänge oder Geräusche, keine Gerüche – nichts. Er lebt in der sinnlichen Isolation, die sich in der Folge auf seine Stimmung und geistige Verfassung auswirken. Mit Heidegger könnt man dies die „fahle Ungestimmtheit“ des Raums nennen.

Was hat das mit der Arbeit eines Architekten zu tun?

 Die Frage lässt sich leicht beantworten. Architektur ist zunächst einmal – wie die Literatur – imaginativ. In der Literatur zeigt sich, „daß man“ – allein durch Imagination – „mit bloßen Buchstaben in der Lage sein kann, ganze Wände aufzurichten, stimmungsvoll zu möblieren, Licht scheinen zu lassen und solcherart den Leser emotional in eine heitere, sachlich-kühle oder auch bedrückende Sphäre aufzunehmen.“ (Nachwort, Seite 347) Ähnlich verhält es sich mit dem architektonischen Entwurf. Nur wenn man eine Vorstellung hat, von dem, was da werden soll kann auch tatsächlich in der gebauten Realität etwas Außergewöhnliches entstehen. Das entworfene Gebäude ist zunächst ebenfalls reine Imagination, ein Produkt der Fantasie. Es muss zunächst einmal eine bestimmte Vorstellung davon vorhanden sein, wie sich ein Gebäude, wie sich Räume „anfühlen“ werden, bevor man sie überhaupt herstellen kann.  Nur wenn man räumliche Situationen „vorausfühlen“ kann, wird man qualitativ hochwertige Atmosphären und Räume entwerfen und errichten können. Andernfalls baut man am Ende nur charakterlose Schachteln.