
Grundgedanke des Essays ist eine Bestimmung der Architektur in der Differenz zur Bildenden Kunst. Worin unterscheidet sich Architektur von den „anderen“ bildenden Künsten? Ausgehend von Kants 3. Kritik – Kritik der Urteilskraft – wird diese Differenz zunächst einmal im Zweck verortet. Während die Bildende Kunst nach Kant allgemein nur fiktive Zwecke simuliert, verfolgt die Architektur immer auch reale Zwecke. Das bedeutet Architektur dient dem Menschen, sie hat immer eine Verweisung „um-zu“, wohingegen die Bildende Kunst im Kern zweckfrei bleibt. Mauricio Pezo und Sofia von Ellrichshausen verfolgen den kantschen Gedanken weiter, indem sie herausarbeiten, dass sowohl der Kunst im Allgemeinen als auch der Architektur im Besonderen in einem weiteren Sinne eine „Intention“ zugrunde liegt. Weder die Kunst noch die Architektur sind intentionslos. Sie beruhen auf bewussten und überlegten Handlungen, denen man eine Bedeutung zumindest unterstellen kann. Man kann naiv die Warum-Frage stellen. Warum ist das so und nicht anders?
Obwohl die zeitgenössische akademische Haltung in unserer Disziplin, das Wettbewerbswesen, die Publikationen und das Ausstellungswesen, also die gesamt professionelle Öffentlichkeit des Architekturbetriebs, etwas anderes vermuten lassen, stellen Mauricio Pezo und Sofia von Ellrichshausen fest: „Of course, nobody would deny that the production of architecture is based on a diverse range of demands.” (Seite 9) Architektur ist, entgegen der selbstverliebten Meinung einiger aktueller Protagonisten im Architekturbetrieb, kein Selbstzweck. Eine Abwehr des Gedankens einer „Selbstreferenziellen Architektur“, wie von Valerio Olgiati vorgetragen, habe ich bereits gegeben (mehr…). Richtig verstanden sind architektonische Intentionen „solutions to Problems, answers to questions, formulations to equations. The factor of which belongs to the very world that surrounds the discipline. Urban, political, ecological, technological or social factors are meant to be properly articulated by the architectural apparatus.” (Seite 10) Das architektonische Werk lässt sich letzten Endes immer auch als „Gerät“, als „(Werk-)Zeug“ verstehen.
Das bedeutet aber nicht, dass sich Architektur im Funktionalen erschöpft. Wer die Architektur des Büro Pezo von Ellrichshausen kennt, wird sie ohnehin kaum des Funktionalismus verdächtigen. „Accepting that the purpose of the architectural form comes from somewhere else has been the battle sword of technocratic endeavors in order to frame the architectural discourse and practice as a pseudo-scientific evolution.” (Seite 11). Ebenso wie der funktionalistische Ansatz laufen der semiotische (Christian Norberg-Schulz) und der rechnerische (Christopher Alexander) Ansatz Architektur restlos zu erklären für Pezo von Ellrichshausen ins Leere. Architektur löst nicht nur gegebene Probleme, sie ist in sich ein komplexes Problem. Konsequent sehen Pezo von Ellrichshausen das Wesen der Architektur nicht im „Was“ der Lösung externer Probleme, sondern im „Wie“ dieser Lösung. Man kann einer gegebenen Notwendigkeit auf die unterschiedlichsten Weisen Raum verschaffen, erst die Art und Weise, wie dies geschieht, kann zu einem architektonischen Werk im eigentlichen Sinne führen. „Therefore, the formal arrangement of that necessity which is not the case but the proposed form for that case, becomes the architectonic purpose, which is not only the plan but the actual project.” (Seite 11) Nicht die Tatsache, dass die Architektur dem Notwendigen des menschlichen Lebens einen Raum gibt, entscheidet über die Architektur, sondern die Art und Weise, wie sie dies tut. Hierin liegt der Unterschied zwischen einer professionellen Architektur und einer in lokalen Traditionen gewachsenen Bauweise.
Mauricio Pezo und Sofia von Ellrichshausen begehen nun nicht den Fehler, den beispielsweise Valerio Olgiati macht, dass sie die Originalität des Wie, das Architektur zur Architektur macht, im Schöpfer des Werks, das heißt dem Autor, suchen.
„But disappointing as it might sound to those enthusiastic followers, there are absolutely no transparent ways of tracing back the intentions of a work of art and, by extension, of a work of architecture, not even for its author. Intentions always vanish behind the concluded production process. If the finishing surface of the painting is rough and glossy while the painter maintains that he intended to produce an opaque and smooth work, the intention becomes irrelevant for any subsequent perception, understanding or judgment from the viewer.” (Seite 15f)
Das Werk ist das Werk, egal was sich der Urheber dabei gedacht haben mag. Es ist ein Ding für sich. Architektur ist eine “Proposition”, eine Feststellung und „the propositional nature of architecture is in the resulting forms and not in the statements or theorems that precede them. (Seite 16) Kunst-Dinge sind Dinge an sich. Setzungen von einer „almost painful metaphysical stillness“, also einer gleichsam metaphysischen Präsenz. Setzungen, die in ihrem Spielraum, den sie lassen, über ihre reine Gegenwart hinausgreifen. „So buildings are what they are or what people who use them want to believe what they are. Apart from emergency signs and some other institutional reference, buildings do not have a user’s guide explaining the author’s intentions at every corner.” (Seite 16) Egal, was sich der Architekt bei seinem Bauwerk gedacht haben mag, sein Werk wird sich von diesen wie auch immer wohlmeinenden Intentionen lösen und sein eigenes Leben entfalten – oder eben tor bleiben. Die Architekturgeschichte ist voll von gut gemeinten aber schlecht gemachten Werken, denen am Ende die Freiheit des lebendigen Raums fehlt.
„This is why any attempt to confine the production of architecture to univocal “intentionalist theory” by which the author has a supreme privilege, would be no more than an absolute failure. The architect simply does not have exclusive rights on the intentions of the architecture.” (Seite 18)
Noch einmal: jeder bauliche Akt ist eine Setzung, die – egal aus welchen Intentionen heraus – die Welt verändert.
„Yet to much innocence can become perverse. The most terrifying aspect of the white canvas is its lack of intentions, its pure innocence. Any Painting on that canvas will be an act of destruction, a violation of the emptiness, an artful purposiveness in which the resulting work recovers the same degree of neutral muteness, of a plain denial of any visible intention.” (Seite 19)
Das Architektonische Werk verschmilzt wieder mit der Welt, die es eben noch für immer verändert hat. Es wird selbst erneut zur „weißen Leinwand“ auf der sich alles Mögliche ereignen kann. Daher ist Architektur einerseits, intentional, da sie aus bestimmten Intentionen und Vorstellungen hervorgeht, verschiedene Anlässe haben kann und bestimmte Zwecke verfolgt. Andererseits ist Architektur „naïv“, wie sich Mauricio Pezo und Sofia von Ellrichshausen ausdrücken, da sie als bestehendes Ding und offener Raum in sich ruhend intentionslos verbleibt.
Mauricio Pezo und Sofia von Ellrichshausen wollen diese „Naïvität“ dann wiederum für den Schaffensprozess des Entwurfs reklamieren. Darin liegt aus meiner Sicht der gedankliche Fehler: Architektur rein künstlerisch zu betrachten. Kunst mag zwar aus bestimmten Intentionen heraus entstehen, bleibt aber letzten Endes „zwecklos“. Umgekehrt: wenn Architektur zweckfrei bleibt und der geschaffene Raum rein künstlerischen Kriterien folgt, ohne einem Leben Raum zu geben, dann wird die Architektur zur Skulptur. Architektur mag zwar immer ein skulpturales Moment in sich tragen, dieses betrifft dabei lediglich ihre Form. Der eigentliche Sinn der Architektur dagegen ist der Raum. Es ist gerade dieses skulpturale Moment, das Pezo von Ellrichshausen in ihren Arbeiten suchen. Eine anonyme Zufälligkeit, „such as the very blankness, emptiness and neutrality of the proposed structure; the repetition, seriality and mechanization that erodes the grandeur of a single gesture; the democratic regularity of radial or rectangular grids; the total non-referential, non-figurative and non-referential, non-figurative and non-quotational condensed into an abstract form; the organization of simple, unpretentious and direct general layouts; the arrangement of basic, familiar and discrete architectural elements; or the disposition of minor accents, or licentious details, of one-off insertions and deviations.” (Seite 21f)
Mauricio Pezo und Sofia von Ellrichshausen verfolgen einen „formalistischen“ Ansatz. Die Form folgt nicht der Funktion, sondern Architektur ist (reine) Form. Zu ihrer Verteidigung sei gesagt, dass in den konkreten Werken immer wieder der Eigenwert der Baustoffe zur Geltung kommt. In ihrem Werk zeigt sich immer wieder der ewige, architekturimmanente Streit von Stoff und Form. Sie zählen daher nicht umsonst zu den bedeutendsten Vertretern einer jungen, chilenischen Architektengeneration, die weltweit Aufsehen erregt. Dabei loten sie in Ihren Arbeiten die Grenzen des Minimalismus aus, die sie gelegentlich hin zur reinen Skulptur überschreiten. Ihre Fragestellung könnte daher auch lauten: Wieviel Kunst verträgt die Architektur? Anders formuliert: Wieviel Naivität darf sein?