28.05.2022

Paul Virilio – Rasender Stillstand

Von
Theorie

„Rasender Stillstand“ von Paul Virilio ist 2015 in fünfter Auflage beim Fischer Verlag in Frankfurt am Main erschienen. Es handelt sich um die Übersetzung der französischen Ausgabe „L‘inertie polaire“. Die Übersetzung besorgte Bernd Wilczek. Dieser kleine Sammelband enthält die Aufsätze „Das indirekte Licht“ – „Das letzte Vehikel“ – „Die kinematische Optik“ – „Die Umweltkontrolle“ – „Rasender Stillstand“.

Alle diese Aufsätze kreisen um das Thema der Auflösung der Realität durch die Visualisierung im digitalen Zeitalter, das ist die Auflösung unseres direkten Bezugs zur Wirklichkeit in durch Signale (Licht) übermittelte Bilder. Dadurch sind wir überall zugleich und doch nirgendwo. Virilio beschreibt dies als Auflösung von Raum und Zeit in der Virtualität. Das bedeutet, in der Echtzeitübertragung schrumpfen Raum und Zeit, in der Geschwindigkeit – deren maximale Beschleunigung die des Lichtes ist – in einem Punkt zusammen. Diese 1990 (sic!) entstandene „Kritik der virtuellen Vernunft“ ist heute so aktuell, wie vor 30 Jahren. Leider gelingt es dem Autor kaum klare Thesen zu formulieren. Der Text besteht daher weniger aus einer gelungenen Argumentation, sondern vielmehr aus einem willkürlich zusammengewürfelten Haufen von Impressionen. Die beiden Aufsätze „Die kinematische Optik“ und „Rasender Stillstand“ könnte man hervorheben. Beide Essays beschäftigen sich mit Steven Hawkins „Eine kurze Geschichte der Zeit“ und Edmund Husserls „Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie“. Es wird klar, dass Virilo versucht das Problem der Beschleunigung von zwei Positionen (Hawkins – Husserl) her zu denken, die extremer nicht sein könnten. Dieser Ansatz ist bestechend, obwohl es Virilio auch hier nicht gelingt, eine klare Pointe zu setzen. 

Hawkins: Ausgehend von Einsteins Relativitätstheorie, den Theoremen Alexander Friedmanns und den Beobachtungen der Rotverschiebung im Licht entfernter Sterne durch Edwin Hubble zeichnet Hawkins die Urknall-Theorie nach und entwickelt daraus eine physikalische Kosmologie. Das Universum hat einen rechnerisch nachweisbaren Anfang (Urknall) aus dem es sich raum-zeitlich ins Unendliche ausdehnt. Dieser Ausgangspunkt bildet das raum-zeitliche Zentrum des Universums.

Husserl: Gegen die Unendlichkeit und Gleichförmigkeit des Universums stellt Husserl ein „privilegiertes Hier“, Dieses ist nicht losgelöst und beliebig, es hat seinen Ort – die Erde – und ist bestimmt durch seine irdischen Bezüge. Diese sind Fundament aller übrigen Sinnbezüge, in denen wir uns aufhalten können. Fundament also auch, für unsere Beobachtungen des Kosmos. Die Erde und im weiteren Sinne unsere gesamte leibliche Verfassung sind die Basis aller unserer Vorstellungen. Alle räumlichen und zeitlichen Erfahrungen sind an unsere Leiblichkeit zurückgebunden. Dadurch ist unser Leib gewissermaßen die Nullstelle im Universum, gleichsam dessen ausgezeichneter Mittelpunkt. Husserl übersieht dabei keineswegs, dass dies nur die eine Seite der Medaille ist. Dem „privilegierten Hier“ steht ein immer notwendig gegebener Bezug auf ein „Dort“ – ein Anderes – gegenüber, der diesen Bezug dem überhaupt erst möglich macht.

Virilio könnte also die eine extreme Position der Nullstelle des Ego (Ich-Hier) auf das andere Extrem einer Nullstelle der Kosmologie, den unendlich verdichteten Punkt des im Ur-Knall geborenen Universums beziehen. Das tut er aber leider nicht. Insofern ist dieses Bändchen zwar reich an Anregungen, aber arm an wirklichen philosophischen Einsichten.