
In den hier versammelten Essays tauchen wiederholt einzelne theoretische Motive zu Form und Farbe auf, die Kandinsky in seinen beiden oben genannten Schriften vertiefend verfolgt. Daneben setzt sich Kandinsky mit einer Reihe von Künstlern seiner Epoche – zum Teil sehr persönlich – auseinander. Es finden Sich Aufsätze zu Paul Klee, Franz Marc, Sophie Täuber-Arp und ganz allgemein zur Kunst des „Blauen Reiters“. In den oft nur wenige Seiten langen Miniaturen, widmet sich Kandinsky meist nur einem einzigen Gedanken, den er pointiert zu Papier bringt. Ein zusammenhängendes Gedankengebäude ist nicht beabsichtigt. So geht es zum Beispiel im Aufsatz „Über die Formfrage“ – einem der wichtigeren Texte – um die Wirkung der Form, die Kandinsky als klangliche Komposition auffasst. Formen sind für Kandinsky relationale Gebilde, das heißt sie erhalten ihren „Wert“ nur durch die mit ihnen gegebenen Verhältnisse. So haben verschieden Formen ihre eigene Zeit. Entsprechend ist auch ihre Wirkung relativ. Dennoch, das ist Kandinsky sehr wichtig, hat jede Form ihre Wirkung. Er veranschaulicht das ein einem sehr einfachen Beispiel: dem Buchstaben. Abstrahiert man vom Zeichengehalt der Schrift, die Laute und diese wiederum Bedeutungen transportiert, so bleibt ein einfaches „Ding“, eine Form, die an sich betrachtet werden kann. Diese kann, je nach Kontext, eine bestimmte Anmutung haben: „«lustig», «traurig», «strebend», «sinkend», «trotzig», «protzig» undsoweiter […].“ (Seite 31) Das geschieht ganz unwillkürlich, insbesondere dann, wenn man eine fremde Schrift gar nicht anders zu deuten vermag als rein die die Sinne ansprechend. Jede Form oder Formenkomposition erweckt in uns ein Gefühl, genauso, wie jeder Ton und jede Melodie ein Gefühl in uns hervorrufen. Kandinsky versteht Malerei weniger als semantische oder erzählerische Kunst, die eine Botschaft übermittelt, sondern vielmehr als emotionale Wirkung, die uns direkt und ohne Umwege bewegt. Das ist einer der zentralen Gedanken in Kandinskys Kunsttheorie.
In einem anderen Aufsatz – „Über die abstrakte Bühnensynthese“ – widmet sich Kandinsky dem Verhältnis der Künste untereinander. Es sind das die an der Aufführung mit beteiligten Künste Architektur, Malerei, Plastik, Musik, Tanz und Dichtung. Hier verbinden sich Raum und Räumlichkeit, Farbe und Licht, einzelne räumliche Ausdehnung, Klang und Zeit mit der Bewegung und dem bedeutungsgeladenen Wort. Kandinsky versteht die Bühne als Zusammenspiel der Künste, als kunstübergreifende Komposition.
Kandinsky ist nicht nur einer der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts, er ist auch einer der bedeutenderen Kunsttheoretiker des vergangenen Jahrhunderts. Dieser Sammelband ist ein guter Einstieg in sein Denken.