19.03.2022

Theodor Fischer – 2 Vorträge über Proportionen

Von
Theorie

„2 Vorträge über Proportionen“ von Theodor Fischer ist 1934 im Verlag R. Oldenbourg in München und Berlin erschienen. Es handelt sich um den Abdruck des Manuskripts zweier Vorträge, die Fischer am 9. Und 10. November 1933 in Stuttgart gehalten hat. 

Theodor Fischer war der große Wegbereiter einer kritischen Moderne in Deutschland. Er gilt als Begründer der sogenannten „Stuttgarter Schule“. Zu seinen bekanntesten Mitarbeitern gehören Bruno Taut und Paul Bonatz.

Die beiden „Vorträge über Proportionen“ bilden zusammen die vielleicht umfassendste und kenntnisreichste Darstellung antiker und mittelalterlicher Proportionstheorien. Anhand zahlreicher Beispiele verfolgt Fischer die Suche der „Alten“ nach dem „rechten Verhältnis“, nach einer idealen Harmonie der Zahlen, wie sie sich im Verhältnis von Längen und Breiten ausdrücken. Immer wieder lassen sich in Grund- und Aufriss klassischer Gebäude Triangulatur, Quadratur und Kreisgeometrien nachweisen, die sich aus geometrischen Sonderfällen jenseits des rechten Winkels zusammensetzen. Die Vorträge verfolgen dabei die pythagoreischen Zahlenverhältnisse antiker Bauten bis hin zur Zahlenmystik mittelalterlicher Kathedralen. Gesucht wird der innere Zusammenhang zwischen architektonischer Proportion und musikalischer Harmonie. 

Fischer ist ein entschiedener Verfechter der These, dass dieser Zusammenhang tatsächlich besteht. Die Eindrücklichkeit der angeführten klassischen Bauten dient ihm hierfür als Beweis. „Das unumstößliche Verhältnis der Zahlen unter sich ist ihnen [den Alten] >logos< (ratio), der Inbegriff göttlichen Grundgesetzes. >ho theos aei arithmetizei<, ist ein Spruch aus pythagoreischem Kreis. (Die Gottheit tut alles mit der Zahl.)“ (Seite 74). Den Einwand, dass Längenverhältnisse nur im zweidimensionalen und Zahlenverhältnisse in gar keinem Raum vorkommen, Architektur dagegen sich in drei Dimensionen materialisiert, lässt Fischer nicht gelten. Er schreibt den Untergründen der „Seele“ eine Art Übersetzer-Tätigkeit zu, die räumliche Erfahrungen in Zahlen transponiert (Seite 81). Wir hören schließlich auch die Zahlenverhältnisse in der Musik als Oktaven, Quinten und so fort. Das mag man glauben oder eben nicht. Die veränderten Sehgewohnheiten seit der Moderne stellen diese These jedenfalls deutlich in Frage.

Der für mich interessanteste Teil an Fischers Ausführungen ist die Verknüpfung verschiedener vertikaler Proportionen mit unseren Stimmungen. Anders gesagt: wie muten uns verschiedene Proportionen an. Demnach beschreibt Fischer zum Beispiel das liegende Verhältnis von 2/1 als demütig, das stehende Verhältnis 1/2 dagegen als übermütig. Hier, in der Ausrichtung von Räumen, scheint mir Fischer auf etwas gestoßen zu sein, das eher universelle Gültigkeit in der Architektur beanspruchen kann: Die Art und Weise, wie Räume in ihrem Verhältnis zu uns ausgerichtet sind hat einen Einfluss darauf, wie sie auf uns wirken. Leider verfolgt Fischer diesen Ansatz in seinen Vorträgen nicht weiter. 

Schlussendlich fehlt den Vorträgen auch eine Diskussion des menschlichen Maßes. Zahlenverhältnisse sind beliebig skalierbar, architektonische Räume dagegen nicht. Sie bleiben immer an ihren Bewohner gebunden. Das sollten wir als Architekten nicht vergessen!

Theodor Fischer: 2 Vorträge über Proportion gehört mit Sicherheit in eine Bibliothek der Grundlagentexte der Architekturtheorie.